Aus der Stadt gefallen – eine Montage im März 2020

„In dem Augenblick aber, wo sie den Stich empfand, fiel sie auf das Bett nieder, das dort stand, und lag in einem tiefen Schlaf. Und dieser Schlaf verbreitete sich über das ganze Schloss. Der König und die Königin, die eben heimgekommen und in den Saal getreten waren, fingen an, einzuschlafen, und der ganze Hofstaat mit ihnen. Da schliefen auch die Pferde im Stall, die Hunde im Hof, die Tauben auf dem Dach, die Fliegen an der Wand, ja das Feuer auf dem Herd flackere, wurde still und schlief ein. Der Braten hörte auf zu brutzeln, der Koch, der den Küchenjungen, weil er etwas versehen hatte, an den Haaren ziehen wollte, ließ ihn los und schlief. Und der Wind legte sich, und auf den Bäumen vor dem Schloss regte sich kein Blättchen mehr.“

(Dornröschen, Brüder Grimm)

Dornröschenschlaf

Erstarrt die Geschäfte, Cafés, Bars, Restaurants, Kinos, Hotels, Würstelstände, Galerien, Büchereien, Universitäten, Werkstätten, Theater, Frisiersalons, Musiksäle, Nachtclubs, Copy-Shops, Änderungsschneidereien, … nicht durch einen Stich in den Finger, sondern durch eine Verordnung:

„Nur Geschäfte für Grundversorgung dürfen noch offenhalten“. Und weiter: „Verordnung des Gesundheitsministers gemäß § 2 Z 1 des Covid-19-Maßnahmengesetzes“ wird ausgesprochen: „Zur Verhinderung der Verbreitung von Covid-19 ist das Betreten öffentlicher Orte verboten.“

Die Espressomaschinen hören auf zu heizen, die Kuchenvitrinen zu kühlen, die Musik zu spielen. Die Gläser und Flaschen, die Frühlingskleidung, der Schmuck, die Bücher, die Handys, … all die Dinge unseres Lebens, die wir brauchen oder glauben zu brauchen, verstauben langsam in den Auslagen und Geschäften. Ein Prinz wird nicht kommen und uns erlösen …. der Kuss wird die Aufhebung einer Verordnung sein. Bleibt die Frage, ob dann alle wieder aufwachen können.

Füchse und Fische

Jemand hat einen Uhu im 1. Bezirk gesehen. Füchse schleichen durch die Gärten in den Randbezirken. „Wo sich Fuchs und Hase gute Nacht sagen, da sind auch Wölfe und Bären nicht weit.“ Das Sprichwort verweist auf menschenleere Einsamkeit – also das genaue Gegenteil von Stadt. Wächst die Dornröschenhecke langsam in die Stadt hinein? Auch die Künstlerin Maria Peters erzählt im Standard-Wohngespräch, dass sich die Tiere offenbar von Tag zu Tag wohler fühlen, die Vögel und die Marder den Park zurückerobern.

„Wie schön wäre Wien ohne Wiener. Der Stadtpark wär sicher viel grüner und die Donau endlich so blau“ singt Georg Kreisler. Dann gäbe es Bilder und Nachrichten von Delphinen in der Donau und klarem Wasser und Fischen im Donaukanal, so wie von Venedig und Triest. Sind aber angeblich ohnehin fake news. Ich brauche es nicht grüner und blauer, mir würde ein Steckerlfisch in der Hafenkneipe reichen ….

Leere

… „und die lauschigen Gassen wärn leer“ … Ob Georg Kreisler sich annähernd vorstellen konnte, dass leere Gassen und Straßen alles andere als lauschig sind?

Die stille, leere Stadt wirkt wie eine Kulisse, die auf das nächste Stück wartet.

Ich wohne doch nicht mitten in der Stadt, um nur mehr die Vögel zwitschern zu hören! Mir fehlt das Knallen der Bälle gegen das Gitter des Fußballplatzes, die Klangkulisse spielender, lachender, schreiender, streitender Kinder im Kindergarten, auf dem Spielplatz. Die Gesprächsfetzen der Menschen im Park. Das Rattern der Züge in der Ferne.

Die Künstlerin Maria Peters sprich davon, wie das Licht und die Soundkulisse vor ihrem Fenster ihr Leben rhythmisieren, „denn die Interaktion mit dem Sonnenverlauf und den Kindern im Innenhof und auf dem Spielplatz gibt mir Orientierung über Jahreszeit, Wochentag und Uhrzeit. … Jetzt ist alles anders. Die Kinderspielplätze sind still, die Straßen fast ausgestorben, und wenn ab und zu jemand durch die Gasse geht, erkennt man von hier oben eine gewisse Anspannung, durch die Ansteckungsgefahr, wie ich vermute. Die Zeit fühlt sich an wie ein ewiger Sonntag.“

Ich fühle mich nicht in der Wohnung eingesperrt, sondern aus der Stadt ausgesperrt. Was wahrscheinlich auf dasselbe hinausläuft. Und zum ersten Mal fühle ich mich unsicher in der Stadt. Einerseits durch die Verordnung und die Polizei – was darf ich, was darf ich nicht -, andererseits spät abends durch die menschleeren Straßen und geschlossenen Lokale.

In der Stadt nicht mehr zuhause sein, die Stadt nicht mehr bewohnen können/dürfen. Sozusagen aus der Stadt gefallen.

Michael Hausenblas schreibt im „Rondo“ über die Wiener Innenstadt, „die von einem mühsamen Wimmelbuch zu einer Geisterstadt wurde“.

Und ich ertappe mich schon bei unsinnigen Gelübden (und stelle mir die entsprechenden Votivbilder dazu vor): Nie mehr wieder werde ich mich über Menschenmassen aufregen, die Touristen auf den Mond oder sonst wohin wünschen. Nie mehr wieder werde ich den ersten Bezirk ein k&k Disneyland nennen … wenn nur das Leben wieder in die Stadt kommt, mit allen Facetten und Ambivalenzen.

Vereinzelung

„Zerstreuen sie sich. Halten sie Abstand von mindestens einem Meter“. Die Polizei fordert uns mit dem Megaphon dazu auf. Auf der Straße machen die Menschen einen großen Bogen umeinander, oft wird dabei ein verzweifelt-entschuldigendes Lächeln ausgetauscht. Manche tragen Schutzmasken, die verdecken jedes Lächeln. Wenn ich mich auf der Straße beobachte und die momentane Sinnhaftigkeit dieser Maßnahmen ausblende, komme ich mir völlig gestört vor. Und ich habe wirklich Sorge, was diese Angst voreinander mit uns allen macht.

Das Konzept Stadt ist nicht Vereinzelung. Stadt ist das, was unterschiedliche Menschen alleine und miteinander tun. Stadt ist Nähe und Austausch.

Rituale

Das tägliche 18-Uhr-Klatschen auf den Balkonen und an den offenen Fenstern für alle, die jetzt „das System erhalten“, wie es so schön heißt, wird zu Recht auch als zynisch empfunden, denn es braucht etwas ganz anderes: viel bessere Arbeitsbedingungen und Gehälter.

Allerdings brauchen wir alle dieses tägliche Ritual: ein gemeinsames in den Stadtraum treten. Etwas miteinander machen. Einander wahrnehmen, anschauen, zuwinken. Der Sehnsucht nach Begegnung folgen …  neue Räume finden.

Wie schön wäre Wien ohne Wiener
So schön wie a schlafende Frau!
Der Stadtpark wär sicher viel grüner
Und die Donau wär endlich so blau!

Wie schön wäre Wien ohne Wiener –
Ein Gewinn für den Fremdenverkehr!

Die Autos ständen stumm
Des Riesenrad fallet um

Und die lauschigen Gassen wärn leer
In Grinzing endlich Ruh

Und’s Burgtheater zu –
Es wär herrlich, wie schön Wien dann wär!

Keine Baustölln, keine Schrammeln
Und im Fernsehn kein Programm!

Nur die Vogerln und de Pferderln
Und de Hunderln und de Baam.

(Georg Kreisler)

Das Foto habe ich vor drei Jahren an einem Frühsommerabend in Alba, Piemont aufgenommen.

Brüder Grimm, Dornröschen
Wien ohne Wiener, Lied und Text Georg Kreisler, 1964
Wohngespräch, Wojciech Czaja mit Maria Peters, Der Standard, 21./22. März
Michael Hausenblas, Daheim ist das neue Fremde, Rondo 1064, 27. März 2020

Hafenkneipe, Donaukanal, bei der Franzensbrücke

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