Ausstellungsbeteiligung räume für notizen

Ich freue mich, bei der Ausstellung der diesjährigen räume für notizen in der Kunsttankstelle Ottakring dabei zu sein. Vernissage: Dienstag, 30. Jänner 2024, 18 Uhr. 1160 Wien, Grundsteingasse 45 – 47.

Leben aufzeichnen – Maxie Wander zum Geburtstag

Letzten September im Literaturhaus Rostock, ein Plakat: die Ankündigung einer Lesung von Carolin Würfel, Drei Frauen träumen vom Sozialismus. Maxie Wander, Brigitte Reimann, Christa Wolf. Mein Herz schlägt schneller. Zur Lesung sind wir nicht mehr in Rostock, aber Maxie Wander breitet sich in mir aus. So lange habe ich nicht mehr an sie gedacht, in ihren Büchern gelesen. Guten Morgen, du Schöne. Ein Leben ist nicht genug. Leben wär‘ eine prima Alternative.

Wie haben wir Mitte der 80er Jahre diese Bücher verschlungen, sie uns einverleibt, in der Familien- und Freundinnenrunde hin und her geborgt, verschenkt. Sätze unterstrichen, herausgeschrieben, in die Wohnung gehängt. Fasziniert von Maxie Wanders rastlosem Lebenshunger, ihrer Neugier, ihrer Suche nach einer neuen, schöpferischen Art zu Leben (die sie unter anderem in die DDR führte, was, samt Ernüchterung ein Kapitel für sich ist). Haben wir doch selbst damals unser eigenes Leben gesucht, das natürlich ganz anders als das unserer Eltern sein sollte.

Fasziniert von ihrer Begabung zu Begegnung und Berührung, was ihre Frauenprotokolle so besonders macht. Von ihrem ununterbrochenen täglichen Schreiben, Beobachtungen, Geschichten, Notizen und hunderte von Briefen. „Und vielleicht sind genau diese Briefe ihr großes, größtes Werk“, schreibt Carolin Würfel. „Das sah und kapierte damals nur keiner, weder sie, noch ihr Umfeld. Ihre Briefe waren keine gewöhnlichen, konventionellen Briefe. Sie waren Korrespondenz und Selbstgespräch. … Sie waren klug und originell und humorvoll und traurig und weise.“

Ihr Schreiben war jedenfalls immer inspirierend, anregend und die Aufforderung, etwas zu tun.   

Am 3. Jänner hätte Maxie Wander ihren 91. Geburtstag.

P.S. Im Rüdigerhof über Maxie Wander schreibend, wird mir erst so richtig bewusst, dass in unseren Raum und die Idee der Salonage nicht die Salonieren wie Rachel Varnhagen oder Bettine von Arnim einfließen, sondern das offene Haus, der große Tisch, die vielen Gespräche, der Gedankenaustausch bei Maxie und Fred Wander in Kleinmachnow. Salonage, das klingt wie Collage und Bagage!

P.S. Was das Tagebuch und das tägliche Schreiben betrifft, herzliche Einladung zu meinem neuen Seminar „Tagebuchvariationen zwischen Text und Bild – Möglichkeiten des täglichen Schreibens“ im Februar 2024 in St. Pölten.

Carolin Würfel, Drei Frauen träumten vom Sozialismus. Maxie Wander, Brigitte Reimann, Christa Wolf. Hanser Verlag, 2022

Maxie Wander, Guten Morgen, du Schöne. Frauen in der DDR. Protokolle, Sammlung Luchterhand,1978

Maxie Wander Leben wär‘ eine prima Alternative. Tagebuchaufzeichnungen und Briefe, Sammlung Luchterhand, 1986

Maxie Wander, Ein Leben ist nicht genug, dtv, 1996

Dezemberwienflanerie etc.magazin

In meiner neuen Wienflanerie „Auf der Suche nach den verlorenen Frauen – Wien am Wasser Teil 3“ geht es um die kaum vorhandenen Frauendenkmäler im Stadtpark, um die Skulptur für Lucia Westerguard der Künstlerin Carola Dertnig, um den Elfriede Gerstl Steg, das Donauweibchen und vieles mehr.

Gedicht von heute – Poesiegalerie 

Ich freue mich sehr, dass mein naturpoetisches Gedicht „liebt mich, liebt mich nicht“ in der virtuellen Poesiegalerie gezeigt wird. 

Mit der Naturpoesie bewege ich mich entlang einer vermeintlichen Lesbarkeit, wo etwas an Zeichen, an Zeilen erinnert. 

In diesem Gedicht auch die Anspielung an das Gänseblümchen-Liebesorakel durch das Zupfen der Blütenblätter.  

zum Gedicht

9. – 11. Nov. 2023 –  Transmediale Poesiegalerie

In der transmedialen Poesiegalerie 2023 zeige ich vier Collagen aus der Serie „Unterstützenswertes Umherschweifen“. 

Diese Text-Bild-Sequenzen montieren und verdichten meine Streifzüge, die Stadtfotografie, die Alltagsbeobachtungen, das Besondere im scheinbar Unscheinbaren. 

zur poesiegalerie

Biografische Einschreibungen in Wiener Kaffeehäuser

Meine Biografie könnte ich – wie wahrscheinlich viele Menschen in Wien – in großen Teilen entlang von Kaffeehäusern erzählen.

Der Schriftsteller Herbert J. Wimmer entwirft im Gedicht „café gerstl“ ein Gesprächsnetz mit Elfriede Gerstl „im café-gedicht als mindmap einer kommunikation und ihrer verteilung über die stadt der gesprächsorte mit elfriede erscheinen cafés die es noch gibt und solche die es nicht mehr gibt im stadtzeitraum von sechsunddreissig jahren.“ (Herbert J. Wimmer, Ganze Teile, Gedichte, Klever Literatur, Wien, 2010, Seite 118 – 120) Eine Auflistung vorhandener und verschwundener Cafés …

Ich weiß nicht mehr, welches mein erstes Café war, aber die stärkste Erinnerung ist das verrauchte Hawelka, mit sechzehn, ein Ort, der mir schnell die Illusion von „erwachsen sein“ gab, auch wenn ich die Mokkatasse halb mit Zucker füllte.

Wie ich übrigens danach noch in vielen weiteren Cafés in vielen Städten in unterschiedlichen Lebensphasen etwas darstellen wollte, in glücklichen Augenblicken fiel Schein und Sein zusammen.

Schule habe ich im Tirolerhof und Tanzschule im Bräunerhof geschwänzt. Die Schulmessen haben wir im Café Eos verbracht, vor dem ausdrücklich gewarnt wurde. Das Studium brachte weitere Cafés, das Salzgries, die Cafeteria am Dach des NIG und das Café Stein, für hektisches Lernen knapp vor den Prüfungen. Im Café Eiles waren die Redaktionssitzungen des „Kunsthistoriker aktuell“, ausgedehnt bis in die Nacht die Abende im Café Engländer und zeitlos die Schreibvormittage im Café Heumarkt.

Rauchend und mit Liebeskummer in einem längst verschwundenen Tschocherl im 1. Bezirk.

Nicht nur in diesem Fall waren Kaffeehausfluchten notwendig für mich, not-wendend.

Ich arbeite zu Hause und mein Schreibtisch stand in der Mitte der Wohnung, ohne dass ich eine Tür schließen könnte. Genauso wollte ich es – mitten aus meinem Leben „mit Kindern und allem“ heraus arbeiten und schreiben. Ein Blatt Papier als Raum für mich alleine war genug, ich fühlte mich unabhängig und frei von Forderungen nach „einem Zimmer für mich alleine“ (Virginia Woolf). An guten Tagen. An schlechten Tagen war das schnell ganz anders und ich bin ins Kaffeehaus geflüchtet.

Sehr vermisste Cafés


Salzgries
Radlager
Milchbart
MAK-Café

Sehr geliebte Cafés


Jelinek
Heumarkt
Korb
phil
Menta
Rüdigerhof
Goldegg
AIDA Wollzeile

Manchmal besuchte Cafés


Eiles
Prückel
Engländer
Sperl

15. Juli 2015, Radlager, Operngasse, 1040 Wien


Orange-gelb gestreifte Markise gespiegelt im Wasserglas, 
im Raum stehende Luft, rinnende Tropfen von der Brust
bis zum Nabel, nicht sichtbar auf dem schwarzen Kleid,
zu heiß für diesen Tag, wie der Espresso in der weißen Tasse.
Im Kopf dreht sich die im Vorbeifahren gehörte Liedzeile
36 Grad und es wird noch heißer … beunruhigende Wahrheit
an diesem Tag.

16. Jänner 2016, Cafe Menta, 1030 Wien


Wie auf Reisen leben, Kaffee trinken und schreiben, abtauchen in meine Worte und wieder auftauchen. Für Augenblicke das Gefühl, ganz woanders zu sein. „Ich kann nicht alle komplizierten Leute aus dem 2. Bezirk nehmen“, höre ich eine Frau sagen und bin zurück in Wien. Vor den großen Fenstern kurven die Straßen und Bahnen hin und her, ziehen ihre Linien. Auch kein unbeschriebenes Blatt, dieser Platz in der Nähe des Wassers. Wie die meisten Orte in Wien, denke ich. Und möchte schon wieder abtauchen. „Nichts ist für die Ewigkeit“, sagt gerade die Frau am Nebentisch.

29. Oktober 2020, Cafe Heumarkt, 1030 Wien


Der Klang der Kühlvitrine. Das Rütteln vor der Stille. Um nach einer Weile wieder zu brummen.
Der Ofen und die Säule.
Die Billardtische.
Drei wechselnde Spiegelbilder golden gerahmt.
Die roten Kunstlederbänke, die Risse geklebt.
Hier habe ich geschrieben, stundenlang.
Hier haben wir Lesungen geplant und auch welche veranstaltet.
Hier bin ich nach Konzerten gesessen.
Hier gibt es Hirn mit Ei und gebackene Champignons.
Hier sind vor sechzig Jahren Liebende gesessen, nachmittaglang bei einem Glas Milch, auf der Suche nach Verstecken.
An den Kleiderständern hängt Vergessenes aller Art.
Hier bin ich im Leo, kurz aus dem Spiel, in Sicherheit.

19. Mai 2021, Cafe Goldegg, 1040 Wien

Ich sitze im Goldegg seit endlich wieder.
Dort wo monatelang das Skelett am Fenster.
Habe Herzklopfen vor Freude und nichts zu schreiben.
Finde einen Kugelschreiber, die Rückseite des negativen Ergebnisprotokolls.
Trinke weißen Spritzer. Feiere.
Die Gesprächsfetzen im Raum,
und Glückspartikel,
der Klang der Kühlvitrine,
und der Espressomaschine.

Als ob immer.

Ist Weiß ein Zustand?

sich entblättern
dich entblättern
mich entblättern

Wo beginnt der Winter?

Wenn sich ein Blatt färbt,
füllt es sich mit Geschichten.

Ist Weiß eine Farbe
oder ein Zustand?

Lass eines ins andere fallen.
Jemandem fällt es zu.

Mein Handauge sieht blind.
Verbindet sich, verbündet sich
mit den Dingen.

Handarbeiten.
Landarbeiten.

Mach aus deinen Händen einen Raum.
Bewohne ihn.

Mach aus deinen Händen eine Schale.
Fülle sie mit Leere.

Ist Landschaft ein Ort
oder ein Wort?

Gib der Erde einen Rahmen.
Verschenke das Bild.

Pflücke einen Blick.
Steck ihn in deine Manteltasche.

Hänge deine Anfänge in den Baum.
Betrachte sie.

Schneeblind übergehe ich die Spur.
Blättere um.

mich entblättern
dich entblättern
sich entblättern

Alltage, Orte, Worte. Frühling 2021

29. März

In der Nacht schreibe
ich den nächsten Tag im Kopf
Was war zuerst?
Schreiben oder leben?

15. April

Frühjahrsmüdigkeit,
Lockdownmüdigkeit,
Pandemiemüdigkeit,
Endloswintermüdigkeit,
Bildschirmmüdigkeit
Ereignislosikgkeitsmüdigkeit – oder wenn auch der fünfte Espresso nicht mehr hilft.

Aber: Herumfstreifen, schreiben, fotografieren.
Und: den ersten Flieder fladern.

19. Mai

Ich sitze im Goldegg seit endlich wieder.
Dort wo monatelang das Skelett am Fenster.
Habe Herzklopfen vor Freude und nichts zu schreiben.
Finde einen Kugelschreiber, die Rückseite des negativen Ergebnisprotokolls.
Trinke weißen Spritzer. Feiere.
Die Gesprächsfetzen im Raum,
und Glückspartikel,
der Klang der Kühlvitrine,
und der Espressomaschine.

Als ob immer.

8. Juni

Pappelwolle fliegt durch die Stadt,
die Blüten sind schon Kastanien,
der Holunder duftet.
Und aber trotzdem.
Unversehrt sind wir alle nicht.

12. Juni, Meidling

Sie ist die Perle der Welt, steht an einer Hauswand geschrieben.
Eine Braut steigt vorsichtig in ein schwarzes Auto.
Mohnblumen bewegen sich am Straßenrand.

19. Juni, Franzensbrücke

Einer schwimmt im Donaukanal.
Ein anderer legt auf seinem Radanhänger auf.
Die Hafenkneipe bleibt.
Die Sonne geht unter.
Der Mond hängt halb.
An der Passage gegenüber steht „auftauchen“

22. Juni

Herbstwelle
Antriebswelle
Deltawelle
Hitzewelle
Dauerwelle
Des Meeres und der Liebe Wellen

Stadtlücken, Geheimnisse

Mein Text „Im Leo sein“ vom 6. August zieht seine Kreise. Die Künstlerin Elisabeth Slavkoff hat Teile davon ins Flämische übersetzt, für ihre Familie, zur Geburt von Leo. 

Petra Kohlenprath schreibt mir, dass der Text im Loibltal, Brodi 1 hängt. Dem Familienhaus der Kohlenpraths, erbaut von den Urgroßeltern 1896. Seit 2015 ist das Haus Erzähl,- Erinnerungs,- Ausstellungs- und Möglichkeitsraum. In diesem Jahr „Das Gedächtnis des Ortes/Kraj in njegow spomin – Ein Vergegenwärtigungsprojekt“ als Teil der Kärtner Landesausstellung.

„Der Raum, den du mir mit deiner Leo Geschichte geschenkt hat, ist wie Medizin für mich. Dort kann ganz vielen heilen. Und das Beste ist, er ist, seit ich ihn kenne immer bei mir. Öfter sollte ich ihn betreten als ich es tue. Ich verinnerliche ihn mir aber immer mehr“, schreibt mir Petra.Was für eine Ehre und Freude, – mein Text an diesem besonderen Ort!

In verlassenen Gebäuden tut sich zwischen dem Nichtmehr und dem Nochnicht ein Raum auf, für alles Mögliche. Zwischen der Leere und der Fülle. Entlang der Spuren wachsen Geschichten und Träume.  Stadtlücken. Zwischenräume. Leos.

Kunst in einer Alt-Simmeringer Hofanlage, mit Werkstätten, einer Selcherei, Garagen, Wohnräumen. Vor dem Abriss konnte die „Haus Wien“ nach einem Open Call für ein paar Tage im September Kunst zeigen.  Ortsbezogen und quer hinein, berührend, inspirierend, vergnüglich. Eine selten gelungene Ausstellung.

Nach der Ausstellung flaniere ich weiter in Simmering herum, entlang einer Sehnsucht nach Stadtlücken, nach Zwischenräumen, vielleicht auch nach dem „geheimen Garten“.  Ein grünes Gartentor ist einen Spalt offen, ich gehe in den verwilderten Garten hinein. Auf dem Gartentisch ein Plastiktischtuch, darauf eine Milchkanne und eine Gartenschere. Die Milchkanne zieht mich an. Obwohl ich Milch überhaupt nicht mag. Nicht den Geruch, nicht den Geschmack, nicht die Haut an der Oberfläche. Aber die Milchkanne speichert Erinnerungen. Sie hat etwas Schützendes, Geborgenes.

In den nächsten Tagen trage ich dieses Haus, diesen Garten, diesen Ort mit mir herum. Denke mir Geschichten aus. Komme wieder. Trinke Tee im Garten und mache Fotos.

„Als wir Kinder waren, fanden wir uns geheime Orte. Sie wechselten mit unseren Umzügen, mussten neu gefunden und erobert werden, mit den Jahren wurde unser Wohnraum zwar Stück für Stück größer, aber die Enge blieb die gleiche. Favorit in der Geschichte unserer Fluchten war und blieb das Hausdach. … Wenn unsere Eltern arbeiteten und wir ein Zeitfenster lang allein waren … schlichen wir uns hinaus und kletterten Hoch ins Dachgeschoss, ich besaß einen Schlüssel, den ich vom Bund des Hausmeisters gestohlen hatte“.

Wie ich das bei Sandra Gugic lese, sehe ich mich sofort in der Prinz Eugenstraße mit dem Lift in den 7. Stock fahren, dann über die Leiter aufs Dach klettern. Zwischen den Schornsteinen die Stadt unter mir. Alleine und glücklich. Ich bin ganz sicher, dass nicht nur Kinder geheime Orte und kleine Fluchten brauchen!

Gestern, bei Freunden im Garten, erzähle ich von meinen Simmering Streifzügen und Entdeckungen, von meiner Liebe zur Gstettn. Michael erzählt, dass sein Vater, der Architekt Ernst Heiss oft darüber gesprochen und geschrieben hat, dass eine Stadt Geheimnisse braucht. Heute schickt er mir die entsprechenden Zitate.

„Zu einem Siedlungsgebiet, dass den Namen Stadt verdient, gehört, dass ein Grundstock an weitgehend unberührten, geheimnisvollen Räumen – quasi als Rückzugsbereich der Seele – erhalten bleibt. … Mehr und mehr verschwinden die „Freiräume“ in den Häusern, jene nicht eindeutig definierten „Überschussräume“ in Keller und Dachboden. Räume, die (verbotenerweise) vom Spiel der Kinder erobert wurden. Abenteuerwelten.“

Zu einer „kleinen Reparatur der Welt“ braucht es die Lücken, die Risse, die Spalten, die Fugen, die Zwischenräume. Die toten Winkel. „Rückzugsbereiche für die Seele“, Leos. Mein Herumstreifen in der Stadt ist eine ständige Suche nach solchen Orten!

Frances Hodgson Burnett, Der geheime Garten, 1911
Sandra Gugic, Zorn und Stille, Hoffmann und Campe, Hamburg 2020
Ernst W. Heiss, Städtebau con amore. Hrsg. von Karl Glotter und Christian Heiss. Wien 1997

Im Leo sein

Auf den Baum, den Brunnen, die Hauswand zulaufen, mit der Hand die vorher ausgemachte Stelle berühren und „Leo“ rufen. Kurz aus dem Spiel, in Sicherheit sein.

Leo bedeutet in Österreich einen Zufluchtsort beim Fangen spielen, wo man nicht abgeschlagen werden kann. Ich erinnere mich auch an solche Felder beim „Mensch-ärgere-dich-nicht-Spiel“. Hatte man dort seine Figur stehen, durfte sie nicht „geschmissen“ werden. Wer allerdings seine Figuren zu lange auf diesen Feldern gelassen hat, ist auch nicht wirklich weitergekommen.

Das Ganze soll auf den Babenbergerherzog Leopold VI. und einen Asylring am Wiener Stephansdom zurückgehen. Sprachwissenschaftlich verwandt ist das Leo mit dem mittelhochdeutschen hleo in der Bedeutung von Schutz, Decke. Wiederum abgeleitet von hlewa, schützender Ort. Leos sind Räume der Zuflucht, des Entkommens aus einer Realität, Gegenräume sozusagen. Sie schaffen allerdings auch Illusionen.

Für mich fühlt sich dieser Sommer wie ein großes Leo an. Das Virus macht natürlich keine Pause, aber die Schulen und Universitäten. In vielen Betrieben ist nach der Kurzarbeit wieder „normale“ Arbeitszeit, allerdings sollen alle ihre Urlaubstage nehmen. Das Leben im Allgemeinen und das Kulturleben im Besondern spielt sich weitgehend im Freien ab. Die Gastgärten sind voll. Das alles wird so nicht bleiben, schon alleine wegen der jahreszeitlichen Wetterwechsel. Den Sommer so leben, dass er auch noch den Winter wärmt, hat Albert Camus angeregt. Und die Maus Frederick, aus dem gleichnamigen Kinderbuch von Leo Lionni, sammelt Farben, Worte und Sonnenstrahlen statt Getreide für den Winter …

Wir berühren mit unserer Hand den Sommer, rufen „Leo“ und hoffen, möglichst lange zu bleiben.

Im Frühling war mein Leo ein Kastanienbaum auf einer Gstetten, im Sommer eine Installation von Anne Vaupel unter einer alten Eiche, immer ist das Blatt Papier eines.

Wir könnten uns alltagstaugliche, wetterfeste Zufluchtsorte schaffen und miteinander teilen!